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Intelligenz, eine dumme Geschichte

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Erlerntes oder angeborenes Verhalten, worum handelt es sich bei dem, was als „Intelligenz“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weit und breit bezeichnet wird? Goethe schilderte Schiller in einem Brief am 27. Februar 1797 seine geringe geistige Leistungsfähigkeit bei Erkältung und verwendete den Begriff damit in einer spezifischen, heute gebräuchlichen Bedeutung:

„Ich bin wirklich mit Hausarrest belegt, sitze am warmen Ofen und friere von innen heraus, der Kopf ist mir eingenommen und meine arme Intelligenz wäre nicht im Stande, durch einen freyen Denkactus, den einfachsten Wurm zu produciren, vielmehr muß sie dem Salmiak und dem Liquiriziensaft, als Dingen, die an sich den häßlichsten Geschmack haben, wider ihren Willen die Existenz zugestehn.“

Damals war die allgemeinere Bedeutung „Verstand, Vernunft“,[1] also diejenige Qualität, die den Menschen vom Tier unterscheidet, noch gebräuchlicher. Aber als der Begriff zwischen 1789 und 1848 boomte, hat sich ein quantitatives Verständnis entwickelt, dessen Messbarkeit sich 1905 in brauchbaren Intelligenztests durchsetzte.[2]

Worum es bei Intelligenz geht

Jüngst versuchte Christof Kuhbandner in der SZ, die Anlage-Umwelt-Debatte zu entscheiden, wieder einmal: „Intelligenz ist nicht angeboren“, lautete seine These. Schön und gut. Was Kuhbandner als Psychologe dabei allerdings ebenso wie die von ihm kritisierten Genetiker übersah: Intelligenz ist überhaupt kein Ding an sich, sondern ein gesellschaftlich konstruierter Begriff für alle möglichen Phänomene.

Das gesellschaftliche Bedürfnis, jedem Menschen einen Wert zuzuweisen, entstand erst aus der Praktik, Menschen Geld für ihre Arbeit anzubieten. Damit stellte sich nämlich stets die Frage: Wieviel? Der quantifizierbare Intelligenzbegriff trug zur Lösung dieses Problems der bürgerlichen Gesellschaft bei, indem er suggerierte, dass es ein objektives Maß gäbe, wieviel jemand „verdient“. Der von der Psychologie wissenschaftlich konstruierte Intelligenzbegriff hat die praktische Fähigkeit, dass sein Maß „schulischen Erfolg und Prestige des später erreichten Berufs besser vorher[sagt] als jede andere erfassbare Eigenschaft“, so dass man damit „Berufsprestige und Einkommen eines Individuums“ vorhersagen kann.[3] Diese „Objektivität“ und „Vorhersagbarkeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang auch „Fairness“, Gerechtigkeit, selbst wenn man von dem zugewiesenen Einkommen nicht leben kann. (Entsprechend gab es auch einige Kritik am Intelligenzbegriff.)

Ein Genetiker, ein Psychologe und ein Philosoph gehen in eine Bar…

Was bedeuten nun die Positionen in der Debatte über Anlage oder Umwelt gesellschaftlich? Genetiker, die Intelligenz für vererbt halten, propagieren damit letztlich nichts anderes als die Ständegesellschaft, nur dass der „Adel“ der Abstammung nicht am Stammbuch gemessen werden soll (wie bei den Nazis). Das Stammbuch könnte ja falsch sein, die Gene hingegen irren sich nie. Und damit weiß die Wissenschaft mit naturgesetzlicher Genauigkeit (irgendwann), wer die besten sind, die kognitiv Leistungsfähigsten, und wieviel mehr als alle anderen sie verdienen.

Dagegen propagieren Psychologen, die erbliche Anteile an Intelligenz für unwesentlich halten, die wesentlich bürgerlichere Gesellschaft, soziale Mobilität, Leistung, Aufstiegschancen für alle – entsprechend ihrer messbaren Intelligenz. „Oben“ ist, wer „intelligent“ ist, und so sollte es demnach auch sein. Ideal wäre also, wenn Einkommen und IQ proportional wären. Und das Phänomen, dass in der Öffentlichkeit Witze über Menschen gemacht werden, die zwar als „oben“ gelten, aber wenig intelligent wirken, ist nicht erst seit Trump bekannt. Dabei ist häufig auch feststellbar, dass Bildung oder Ausbildung mit Intelligenz vermengt werden, etwa wenn fragwürdige Orthographie zum Anlass für das Verlachen von anderweitig erfolgreichen Personen genommen wird. Die öffentliche Wahrnehmung von Verona Pooth und in der Folge von zahlreichen weiteren „Sternchen“ ist von der ständigen Spannung zwischen massenmedialen, auch kommerziellen Erfolgen und naivem, schlichtem, zum Teil absichtlich dummem Auftreten geprägt. Das ist wohl deshalb eine immer wiederkehrende Konstellation der gegenwärtigen Öffentlichkeit, weil diese Konstellation die seit etwa 1900 etablierte Proportionalität von Intelligenz, Berufsprestige und Einkommen konterkariert und damit etwas Interessantes, als neu Empfundenes darstellt.

Im Gegensatz zu den Auffassungen der modernen, technisch-instrumentellen Wissenschaft in Gestalt von Genetikern und Psychologen, können Philosophen im Anschluss an Immanuel Kant argumentieren, dass Personen einen absoluten Wert haben, weil sie Zwecke an sich selbst sind und nur dadurch Moralität, Sittengesetz, praktische Vernunft möglich ist.[4] Das Grundgesetz schließt sich durch Artikel 1 dieser Auffassung an, da Menschenwürde und absoluter Wert gleichbedeutend sind. Damit ist die ältere Bedeutung von Intelligenz als „Verstand, Vernunft“, die den Menschen vom Tier unterscheidet, aber nicht zur wertmäßigen (einkommensmäßigen, prestigemäßigen) Differenzierung zwischen verschiedenen Menschen geeignet ist, bis in die Gegenwart erhalten geblieben.

Doch welche dieser drei Positionen wird sich durchsetzen – Genetiker, Psychologe oder Philosoph? Wer glaubt, dass das davon abhängt, welche der drei Wissenschaften die stärkeren Beweise vorlegen kann? Oder sind diese Beweise weniger wichtig, ist es für den Erfolg einer Intelligenztheorie entscheidend, dass sie der Gesellschaft entspricht, nützlich für deren Zwecke ist? Fragen über Fragen. Und dabei ist noch ganz außer Acht gelassen, welches Einkommen und Prestige künstliche Intelligenz „verdient“, und wer davon profitieren könnte.

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